Thomas Klugkist – Hanna und Sebastian

hanna und sebastian_c.h.beck_verlag

Im Frühjahr konnte man sich beim Verlag C.H.Beck um ein Rezensionsexemplar des Buches „Hanna und Sebastian“ von Thomas Klugkist bewerben. Der Klappentext versprach:

„Dieser sinnlich-virtuose Roman, das literarische Debüt von Thomas Klugkist, erzählt in Briefen, Mails und SMS von einem rückhaltlosen Liebes- und Beziehungsexperiment.“

Das hatte meine Neugierde geweckt; vor allem, weil die Idee, einen Roman nicht in Erzählform, sondern in Brief-, SMS- oder Mailsequenzen zu verfassen, nicht neu ist. Ich habe „Gut gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer gelesen (ganz nett) und im letzten Jahr folgte „Warte auf mich“ vom Autorenpaar Philipp Andersen und Miriam Bach (schon besser).

Entsprechend gespannt war ich, wie ein Mann, der seine Dissertation über Thomas Manns „Doktor Faustus“ schrieb, sich diesem Thema nähert.

Und es war – anfangs seltsam, manchmal irritierend, häufig anstrengend. Aber auch intensiv berührend und dauerhaft die Gedanken zum Fliegen bringend. Schwer beschreibbar.

Ich habe lange überlegt, wie ich eine Rezension verfassen kann, die dem Buch gerecht wird und gleichzeitig meine persönlichen Leseeindrücke zusammenfasst. Mir kam die Idee, dass die Form des Briefwechsels vielleicht angemessen sei – und wer wäre dazu wohl besser geeignet, als der Autor des Buches selbst? In einem meiner impulsiv-wagemutigen Momente schrieb ich ihn kurzerhand an. Und was soll ich sagen… Das kam dabei heraus:

20.04.2014 0:21 Uhr schrieb lustzulesen:

Lieber Thomas,

der Roman „Hanna und Sebastian“ macht es dem Leser nicht leicht. Angelegt als Schriftwechsel in Brief-, SMS- oder später in Mail-Form, liest man sozusagen ohne Filter mit; ohne Distanz und ohne helfende narrative Hand wird man ganz unmittelbar zum Zeugen zweier Menschen, die sich ihr Innerstes offenbaren. Verbunden mit dem eigenwilligen Sprach-, nein, in diesem Fall ist es ja Schreibstil, die jede Persönlichkeit mitbringt, muss man sich erst einmal auf den jeweiligen persönlichen Sprachrhythmus einstellen – dafür braucht es schon ein paar Seiten.

Durch die oben von mir geschilderte Distanzlosigkeit, dieses Unmittelbare, fühlte ich mich anfangs ein wenig unbehaglich, irgendwie ertappt, wie jemand, der unfreiwillig einer höchstpersönlichen Unterhaltung lauscht.

War das Kalkül?

Herzliche Grüße

Sonja (immer noch gefangen in der Geschichte)

 

Am 22.04.2014 um 20.10 Uhr schrieb Thomas:

Liebe Sonja,

schön, dass die Geschichte dich fangen konnte und du dich trotz allem auf sie eingelassen hast!

Mich würde sehr interessieren, was dich da eigentlich gereizt und vorwärts gezogen hat – denn ich fürchte, ich muss es tatsächlich zugeben: Mir war bewusst, dass ich von Leserin und Leser einiges verlange. Und dazu gehört sicher auch Hannas und Sebastians Wahrheits-Experiment. Aber mich hat das eben selbst sehr interessiert. Nicht nur: Wie ehrlich kann man sein? Sondern auch: Wie viel darf man sogar denen, die man liebt, von dem zumuten, was man ist? Will man überhaupt so viel Ehrlichkeit?

Vor dieser Frage stehen ja schon die Briefpartner – sehr klar, wenn der andere von seinen erotischen Erlebnissen erzählt, aber auch schon, wenn er seine Ängste und Sehnsüchte und Schmerzen zugänglich macht. Wie viel davon kann ich im Mitgefühl ertragen? Wie viel davon hören und geschehen lassen, ohne etwas dagegen zu tun? Für Hanna ist das irgendwann sogar ein berufsethisches Problem, weil sie als Ärztin helfen will und nicht kann. Weil sie sich, zur Untätigkeit verdammt, schon aus älteren Erfahrungen schuldig fühlt.

Kennst du nicht selbst dieses Gefühl? Mitzuwissen und mitzufühlen und trotzdem außen vor zu bleiben? … Und sich zu fragen, wann man nicht mehr außen vor bleiben darf?

Das Unmittelbare gehört noch aus einem weiteren Grund zum Konzept, den du sehr treffend als helfende narrative Hand benennst: Es gibt keine objektive Wahrheit in diesem Roman, nur Perspektiven. Alles, was wir wissen, wissen wir von Hanna und Sebastian. Auch die Audio-Spur von Johannes könnte ein Kunstgriff sein. Das hat die sehr schöne Seite, dass jedes Wort, das da steht, beweist, dass die beiden sich weiter lieben, aufeinander hoffen, sich weiter schätzen. Und dass sie weiter bereit sind, dem anderen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Andererseits gibt es keinen Halt, nur Interpretationen. Nicht Wahrheit, sondern eben nur Wahrhaftigkeit. Das ist vielleicht die Grundsituation, in der wir Menschen uns befinden, aber darum ist sie vielleicht nicht leichter erträglich.

Und was die Sprache der beiden angeht: Auch die muss den Zug ins Authentische natürlich mitmachen, muss sich der Standardisierung entziehen. Das macht sie, indem sie das Vertraute fremd macht, das Fremde vertraut, tote Metaphern wiederbelebt, Dinge wörtlich nimmt… Und indem sie sich zu einer eigenen Sprache entwickelt. Hanna und Sebastian haben ja sehr unterschiedliche sprachliche Temperamente – wo die eine impulsiv und kurz und manchmal schroff ist, zumindest pragmatisch, ist der andere oft umständlich, akademisch und allzu korrekt. Oder auch feierlich. Aber sie entwickeln auch gemeinsam sprachliche Instrumente, um die eigensten Erfahrungen zur Sprache zu bringen und um sprachliche Beschränkungen eigener Erfahrung abzubauen. Das gemeinsame Experiment ist auch ein gemeinsames sprachliches Projekt – an dem wahrscheinlich auch die Leserin nicht vorbeikommt. Die Sprache transportiert nicht nur, sondern verlangt auch ihrerseits Aufmerksamkeit. Sie nimmt Tempo raus, indem sie dem scheinbar Selbstverständlichen immer wieder den sprachlichen Boden entzieht, nach Möglichkeit neu ansetzt, freilegt und vertieft.

Entschuldige bitte. Du hast gleich so wichtige Dinge angesprochen, dass ich mich nur mit Mühe zurückhalten konnte. Das nächste Mal, versprochen, bin ich kürzer.

Herzlich Thomas

 

Am 23.04.2014 um 21:49 schrieb lustzulesen:

Lieber Thomas,

du willst wissen, was mich an der Geschichte trotz einer gewissen Sperrigkeit gereizt und vorwärts gezogen hat?

Nun, ich halte es jetzt mit Hanna und Sebastian, antworte also wahr und wahrhaftig. Es war nicht die Spannung; es war auch nicht die Neugier auf das Ende. Es waren die leisen Fragen, die sich während des Lesens bildeten, an mir und in mir nagten; es waren die Widersprüche: von den einzelnen Personen, von den vom Klappentext und von Vor-Rezensenten geweckten Erwartungen im Gegensatz zu meinem eigenen Er-Lesen.

So stellte ich mir immer wieder die Frage, ob die beiden sich wirklich lieben? Mir kam es immer eher so vor, als ob die beiden sich in einer Erwartung des vielleicht Möglichen lieben, eine Wunschvorstellung konservierten und sich gemeinsam einen Schutzraum schufen, in dem sie ihrer Sehnsucht nach dem vollkommenen Gefühl einen Platz geben können. Ich fragte mich nicht, ob man jemandem so viel Wahrheit über die eigene Person zumuten kann und darf, auch nicht, ob und wie viel man selber ertragen kann oder will. Wir tragen alle irgendwie den Wunsch in uns, unser wahres Ich jemandem offenbaren zu können – aber macht es dann eine lebbare, lebendige Liebe überhaupt noch möglich? Leben unsere Beziehungen nicht auch von dem Rätselhaften (im positiven wie im negativen Sinne), muss nicht auch Platz bleiben für unsere eigenen Interpretationen, selbst wenn sie falsch sind?

„Kennst du nicht selbst dieses Gefühl? Mitzuwissen und mitzufühlen und trotzdem außen vor zu bleiben? … Und sich zu fragen, wann man nicht mehr außen vor bleiben darf?“

Doch, natürlich, das Gefühl kenne ich. Im Buch ist das natürlich eine berufliche, ethische und persönliche Zwickmühle. Aber, da die Grundlage der beiden absolute Wahrhaftigkeit ist, die, um funktionieren zu können, nur durch eine solide Basis grenzenlosen Vertrauens funktionieren kann – wäre da nicht die konsequente Haltung gewesen, nicht mit dem Gefühl des Außen-vor-bleibens zurückzubleiben, sondern aktiv den Entschluss respektvoll mitzutragen?

Ich sehe, sich kurz zu fassen fällt bei diesen Fragen und den Versuchen, sie in Worte zu packen, sehr schwer.

Nachdenkliche Grüße

Sonja

 

Am 26.04.2014 21.18 Uhr schrieb Thomas:

Liebe Sonja,

das scheint für viele eine entscheidende Frage zu sein – ob sich die beiden „wirklich lieben“. Allerdings heißt „wirklich“ dann sehr oft, ob sich die beiden körperlich lieben. Für mich ist das zu einfach: Hanna und Sebastian kennen sich so real, wie es nur geht. Sie haben zuerst eine Freundschaft aufgebaut, was für mich ein Königsweg zur Liebe ist. Und dass sie später immer wieder auf die Freundschaft zurückgreifen können, rettet auch ihre Liebe – ganz ähnlich, wie bei Sebastian und Sibylle, wo es Sibylles freundschaftlicher Respekt ist, der den liebenden Zugriff verhindert und Sebastians freie Rückkehr ermöglicht.

Wenn ich mich frage, ob sich Hanna und Sebastian „wirklich lieben“, dann eher, weil sie so etwas wie die Utopie einer Beziehung leben. Jedes Wort, das sie sich schicken, ist ein Liebesbeweis. Würden ihnen die Gefühle ausgehen, würde der Text einfach enden. Solange sie zusammen sind, schenken sie sich ihre ganze Aufmerksamkeit, da gibt es keine Zerstreuung, keine Ablenkung, keine innere Abwesenheit. Keinen Alltag, keinen Abwasch und keinen Einkauf. Und ihre Beziehung ist, solange sie zu ihr stehen, vollkommen ungefährdet. Niemand kann ihnen ihr Bistro, ihre Sprache, ihre Aufrichtigkeit nehmen. Oder, ganz richtig, ihre Phantasie, die auch jede körperliche Beziehung mit allem Wesentlichen versorgt. Hannas und Sebastians Liebe existiert zusätzlich zu allem anderen – und die Frage ist, ob sie als zusätzliche Spur des Lebens irgend jemandem etwas wegnimmt.

Und warum sollte die Eigenart einer solchen Beziehung kein Eigenrecht haben? Warum muss man sie daran messen, was sie nicht kann – und nicht an dem, was sie kann? Warum sollte man nicht umgekehrt „normale“ Beziehungen an dem messen, was diese körperlich begonnene, schriftlich weiterentwickelte Beziehung kann? Auch der Verbleib im Ideellen stellt sich dann als eine Stärke dar…

Nachdenkliche Grüße auch von mir. Um mich herum sprechen die Menschen, während die Dämmerung sich um uns senkt. Und ich weiß nicht, was sie mehr beschäftigt – ihre langsam schwindenden Gesichter und Oberkörper – oder eben ihre Worte.

Herzlich Thomas

 

Am 01.05.2014 schrieb lustzulesen:

Lieber Thomas,

auch mir ging es bei der Frage, ob die beiden sich wirklich lieben, nicht um die körperliche, greifbare, messbare Definition, sondern um das, was du mit der Utopie von Liebe beschreibst. Es ist eine zusätzliche Spur; und die Frage, inwieweit diese weitere Liebe jemand anderem etwas wegnimmt, überhaupt wegnehmen kann, beweist ja ihre überaus starke Präsenz – und trotzdem teilen die beiden ihre Leben mit anderen, physisch anwesenden Partnern. Da stellt sich automatisch die Frage nach dem Grund des Aufrechterhaltens, schlummert doch in den meisten von uns immer noch die Sehnsucht nach der einen, der großen, der allumfassenden Liebe, die keine weitere neben sich braucht. Oder, um es mit Platon zu sagen, man sucht mit Sehnsucht nach der anderen Hälfte, die uns sich wieder vollständig fühlen lässt.

Aber ich möchte nicht weiter in die Tiefe gehen, um dem Leser nicht zu viel vorweg zu nehmen, schließlich sind die Fahrten mit der Gedankenachterbahn unabdingbarer Teil des Leseerlebnisses!

Interessant ist es, die beiden bei ihren Leben zu beobachten und ihre jeweiligen Entwicklungen im Laufe der Jahre zu verfolgen. Wobei Sebastian für mich, trotz all seiner Ausflüge ins „Metaphysische“, der Geerdetere  von beiden zu sein schien. Ich war sehr gespannt, wie die beiden, über die Jahre hinweg und trotz der Unterschiedlichkeiten von Beginn an, ihre Nähe zueinander aufrechterhalten konnten.

Jetzt, mit etwas Abstand, verfestigt sich immer mehr der Eindruck, dass es immer um das ständige Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, zwischen grenzenlosem Vertrauen und Unsicherheit, um das Suchen und Finden, Festhalten und Loslassen geht. Und um Angst.

Um alles also, was uns ausmacht.

Grübelgrüße

Sonja

 

Am 07.05.2014 um 21.32 schrieb Thomas:

Liebe Sonja,

ich stimme dir absolut zu. Es geht um den Wechsel zwischen Nähe und Distanz – und um ihre Gleichzeitigkeit. Denn was Hannas und Sebastians Freundschaft schon zu Schulzeiten begründet hat, das war ja nicht zuletzt ihr Aufbruchswille. Beide müssen sehr viel loswerden, beide suchen einen äußersten, ihren äußersten Punkt und laufen dabei immer weiter auseinander, bis sie in geradezu gegensätzlichen Regionen landen. Erst ihre Liebe und gegenseitige Unterstützung gibt ihnen diese Freiheit, und die kostet sie Nähe. Umgekehrt aber macht auch erst die Freiheit ihre Liebe aufrichtig. Es gibt für sie nicht das eine ohne das andere.

Erstaunlich, dass du Sebastian als geerdeter erlebt hast! Mir scheint Hanna viel eher auf beiden Beinen und auf dem festen Boden der Tatsachen zu stehen. Zeugt die Partnersuche für dich womöglich ganz generell von einem größeren Verlust und Bedarf als die Sinnsuche? So wie bei Platon, da du ihn zitierst – wo die Menschen noch einmal die ursprüngliche Wahrheit sehen, nicht aber in ihre ursprüngliche Ganzheit zurückkehren können? Die von den Göttern verhängte Trennung der Geschlechter lässt sich ja trotz aller Sehnsucht nicht überwinden… Ist diese, Hannas Tragik für dich die eigentliche Tragik?…

Herzlich Thomas

 

Am 07.05.2014 um 22.21 Uhr schrieb lustzulesen:

Lieber Thomas,

Ja, genau – Hanna schien eher mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen. Schließlich sprach auf den ersten Blick alles dafür: sie war ehrgeizig, zielstrebig, durchsetzungsfähig; machte Pläne und setzte sie auch um; sie war umsichtig, stellte aber ihre Bedürfnisse nicht hinten an. Sie war eindeutig die Pragmatischere von beiden, eine Frau der Tat. Sebastian, immer irgendwie den Kopf in den Wolken, verkopft; wunderte sich auf seine Art immer darüber, was das Leben so für ihn bereit hielt, dankbar für die Wunder, die ihm passierten.

Und jetzt folgt mein großes Aber: im Laufe der Jahre (der Geschichte) wandelte sich dieses Bild. Sebastian war immer Sebastian. Ein Denker und manchmal auch Träumer, aber er war immer er selbst. Er ruhte in sich und zirkulierte um sich, streckte seine Fühler aus, um sich dann wieder mit seinen jetzt gewonnenen Erkenntnissen neu auszurichten (da ist es wieder, das Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz).

Wie anders doch Hanna. Unter dem Mantel des Selbstbewusstseins brodelte und waberte es, und das gewaltig. Sie schien mir immer auf der Suche nach irgendwas, etwas, das sie selber nicht benennen konnte – und selbst diese Tatsache überhaupt anzuerkennen, gestattete sie sich erst zum Schluss.

(OT – ich weiß nicht, ob man das mit in die Rezenzion schreiben kann oder ob es zuviel verrät:)

Ihren Schmerz, ihre Ohnmacht und ihre Wut über den Missbrauch – das alles konnte sie selbst ihrem engsten Vertrauten Sebastian erst nach und nach und stückchenweise anvertrauen. Deute ich zu viel hinein, wenn auch die Scham darüber, ihrer Schwester eine konsequente Unterstützung (auch früher) ausgeschlagen zu haben, dieses Sich-Öffnen verzögert hat? Sie befand sich immer in einem Zustand der Zerrissenheit – einerseits das leise nagende Verantwortungsgefühl (beruflich und ihren Angehörigen gegenüber), andererseits das befreiende Bedürfnis, nur für sich selbst geradestehen zu wollen. Diese Zerrissenheit zieht sich wie ein Faden durch ihre ganze Vita, und je weiter der Roman fortschreitet, desto stärker scheint auch Sebastian das zu bemerken.

Von daher erschien mir sein In-Frage-Stellen gegen Ende nur eine logische Schlussfolgerung.

Herzliche Grüße zurück

Sonja

Nachtrag: 23.09 Uhr

Und ja, wenn ich so darüber nachdenke, ist Hannas Tragik die eigentliche Tragik. Ist es nicht dieses sehnsuchtsvolle Gefühl, diese Sehnsucht nach etwas, das wir oft nicht benennen können, jeder für sich und bei jedem anders, die Triebfeder unserer Leben? Das Suchen (nach was?) nach dem „Ding“, nach dem Kick, damit wir uns vollständig fühlen, der Vollkommenheit entgegen?

Bei Hanna bewirkt der Motor der Suche einerseits eine ungeheure Motivation, die sich im beruflichen, gesellschaftlichen und teilweise beziehungsmäßigen Erfolg manifestiert – andererseits aber entwickelt sie dadurch eine starke destruktive Kraft, die sie dazu bringt, sich mit Partnern einzulassen, die sie gleichermaßen faszinieren (warum nur?) und abstoßen – und ihr nicht gut tun, wie sie selbst und auch Sebastian bemerkt.

Bei ihm, Sebastian, führt dieses Suchenwollen lediglich zu einer sich immer höher schraubenden Gedanken- und Bewusstseinsspirale.

Ich hoffe, ich habe mich so ausgedrückt, dass du meinen kruden Gedankenschleifen folgen konntest…

Du siehst, dein Buch kann einen Leser durchaus noch eine ganze Zeit nach dem eigentlichen Lesen beschäftigen.

Spätabendliche Grüße

Sonja

 

Am 15.05.2014 19.26 Uhr schrieb Thomas:

Liebe Sonja,

du hast viel Sinn für das, was Hanna meiner Meinung nach eigentlich antreibt, unterhalb der glänzenden Oberfläche. Sie hat einen schlimmen Moment der Ohnmacht erlebt, in dem sie das Gefühl hatte, aus ihrem Körper gestoßen zu werden. Und sie verwendet viel Kraft darauf, die Kontrolle zurückzugewinnen und ihren Körper wieder ganz in Besitz zu nehmen, die empfundene Trennung von ihm rückgängig zu machen.

Aber anders als Rebecca verdrängt sie nicht, sondern stellt sich dem Problem, sucht über Jahre immer neu und immer weiter nach einer Lösung – vielleicht ein Grund, warum ihr Rebeccas Schicksal erspart bleibt – und zwar in der materiellen Realität. In meinen Augen ist das sehr mutig und sehr bodenständig.

Sebastian dagegen will von Anfang an das Körperliche durchdringen und hinter sich lassen, weswegen er im Briefwechsel wahrscheinlich auch eher eine Beziehung sehen kann als Hanna, der darin immer etwas fehlt. Weil er eigentlich die Seele berühren möchte, kann er sich Sibylle erst in der geisterhaften Hochzeitsnacht wirklich nahe fühlen. Der Weg dahin ist konsequent, aber er führt auch ein gutes Stück von der „festen“ Realität weg – etwas, das Hanna aus nachvollziehbaren Gründen gar nicht ertragen kann. Und in der Verfolgung ihres Ziels, finde ich, ist sie nicht weniger beharrlich als er.

Schön aber, dass wir hier auf diese untergründig immer präsenten Motive kommen! Aus meiner Sicht gehören sie zu dem, was hier die Welt im innersten zusammenhält…

Herzlich Thomas

20:09 Uhr

Nachtrag meinerseits:

So kann auch ich ganz zustimmen: Es ist vor allem die Sehnsucht, die uns am Leben hält. Ohne sie hätte es gar keine Eigenbewegung. Denn natürlich können auch die Angst oder der Ekel große Triebfedern sein, aber ohne die Sehnsucht entwickeln auch sie keine Dynamik. Und ich persönlich glaube, dass die Menschen, wenn sie angeblich sich darstellen und beschreiben, viel häufiger von ihren Sehnsüchten als von ihren unbefriedigenden Ausgangspunkten erzählen.

Aber geht es nicht auch bei Sebastian um Sehnsucht? Vor allem darum, die materielle Trennung von allen Dingen und Menschen zu überwinden? Sich nicht körperlich, wie Hanna, sondern geistig freizustrampeln? Und spürt nicht auch er seine Sehnsucht und seinen Mangel vor allem im Partnerschaftlichen, im körperlichen Kontakt zu einem geliebten Menschen?

Ich sehe da also gar nicht so grundsätzliche Unterschiede. – Und du siehst, dass auch mich das Buch und die Menschen des Romans noch weiter beschäftigen…

Einen schönen Abend, herzlich Thomas

 

Am 22.05.2014 um 0:31

doch, eigentlich hast du Recht. Auch Sebastian geht es um einen Ort für die Erfüllung seiner Sehnsucht – und Art und Qualität seiner Suche stehen im krassen Gegensatz zu Hannas. Dann liegt es wohl am Naturell des Lesenden, welcher Person er sich näher fühlt, oder, besser ausgedrückt, welche Person ihm nachvollziehbarer erscheint. Vielleicht erscheint einem auch die Person näher, die die eigenen Sehnsüchte spiegelt?

Und ebenfalls ein „JA“, zu deiner vorigen Mail: das ist ein Punkt, der mir sehr gefallen hat – dieser unterschwelligen, permanent vorhandenen Motive, die man anfangs eher ahnt und die sich im Laufe der Zeit verdichten, an Konturen gewinnen, aber nie vollständig und endgültig scharf gezeichnet werden. Wie passend dazu das offene Ende…

Falls du wissen möchtest, wie mein persönliches Ende (also der Geschichte) aussieht, darfst du weiterlesen. Wenn nicht, flieg weiter bis zum Gruß 😉

Man könnte meinen, Sebastian hätte sich aufgrund einer Darmerkrankung zum Sterben zurückgezogen, um dem Liebsten, was er hat (Sohn, Hanna, Mutter) den Abschiedsschmerz zu ersparen. Aber so, wie er sich und sein Verhältnis zu seinem Sohn beschrieben hat, würde das (für mich) nicht ganz stimmen… Eher hege ich den Verdacht, dass er sich eine „Auszeit auf unbestimmte Zeit“ genommen hat, um sich zu kurieren. Und zwar ohne Hanna, weil er ihre Einstellung dazu noch aus der Zeit mit Sibille kannte. Für mich lasen sich seine letzten Briefe an Hanna wie ein langsames Auftauchen, ein schmerzhaftes Erkennen und gleichzeitig auch ein vorweggenommener Trost der noch nicht vollständig vollzogenen Trennung.

„Aber das sind nur Griffe ins Unbegreifliche, letztlich kann kein Wort uns ruhigstellen. Also trauere ich um uns, um das, was möglich war und hoffe – obwohl mein Gefühl mir etwas anderes sagt.“  (…einer von vielen wunderbaren Sätzen!)

Letztendlich bleibt aber alles Spekulation.
Oder?
Und so ist mir jetzt etwas seltsam… sollte die Rezension tatsächlich zu Ende sein.

Es grüßt ganz herzlich

Sonja

(heute als Nachtgespenst)

 

Am 02.06.2014 um 15.50 Uhr schrieb Thomas:

Liebe Sonja,

das ist bestimmt so: dass jeder Leser und jede Leserin sich aussuchen kann, wessen Ziele er oder sie teilt, zumal da auch Sebastian sehr weit kommt. Ein Motiv, das eng mit seinen Glücksvorstellungen zusammenhängt, ist ja das „Verschwinden“. Danach könnte sein gesundheitlicher Zustand sogar seinem tieferen Willen entsprechen. Andererseits glaubt Leon, der sich mit der ewigen Wiederkehr sehr gut auskennt, dass Sebastian den Weg um die Kugel beenden wird, und versucht Hanna es schließlich mit Sebastians Mitteln, indem sie sich ihr Wiedersehen vorstellt und dann das magische Wort spricht, das ihn schon einmal herbeigerufen hat. Vielleicht ist das nicht mehr als ein Akt der Verzweiflung, aber ich würde nicht ausschließen, dass sie damit Erfolg hat und alles gut ausgeht…

Und ist denn nicht ohnehin das meiste im Leben nur Spekulation? Wir alle versuchen ja ununterbrochen, aus den Dingen schlau zu werden, selbst da, wo wir nur über eine Hand voll Puzzlesteinchen verfügen – und uns trotzdem ein großes Bild machen. Ganz ebenso sind auch Hanna und Sebastian unermüdliche Deutungsmaschinen, die sich auf jedem neuen Punkt ihrer Lebensreise immer wieder umsehen und alles aus einem anderen Blickwinkel betrachten – ihre Welt, den anderen, sich selbst. Natürlich denken sie jeweils, dass sie jetzt den besten Überblick haben und endlich begreifen, was sie vorher im falschen Zusammenhang oder unvollständig gesehen haben. Letztlich aber verschiebt sich nur das Leben und bleibt sehr unklar, welche Sichtweise richtig ist oder ob es die überhaupt gibt. Und da wir als Leser nun einmal nicht mehr sehen als Hanna und Sebastian, eher weniger, würde ich immer alles oder doch fast alles für möglich halten…

Liebe Sonja, vielleicht sollten wir jetzt die Schriftform verlassen – und uns einmal persönlich treffen? Anders als Hanna und Sebastian haben wir uns noch nie gesehen, anders als die beiden haben wir uns bisher nur sprachlich einander genähert und könnten jetzt anfangen, einander kennenzulernen. Hanna zumindest würde so vorgehen – und ich halte es da, glaube ich, eher mit ihr als mit Sebastian.

Herzlich aus dem zweiten Sommeranfang

Thomas

 

Wer also einen Roman zum Einfach-Weg-Lesen erwartet, sei gewarnt. Dem ist nicht so, in keiner Weise. Wer sich aber etwas mehr Zeit zum Lesen nehmen und auf einen in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht ungewöhnlichen Roman einlassen will – dem möchte ich Hanna und Sebastian ehrlich und dringend ans Leseherz legen. Aber Vorsicht: die beiden lassen einen nicht so schnell wieder los…

 

Klugkist, Thomas
Hanna und Sebastian
Roman
2014. 432 S.: Gebunden
C.H.BECK ISBN 978-3-406-65960-7

 

 

 

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4 Kommentare

  1. SO ETWAS habe ich auch noch nicht auf einem Blog gefunden. Was für eine wunderwunderbare Idee, lliebe Sonja, ich bin hellauf begeistert. Im Moment zu müde, um alles komplett durchzulesen, aber das erste Überfliegen ist höchst interessant, Ich widme diesem Artikel morgen, wenn die Augen wacher sind, meine ganze Aufmerksamkeit 🙂

    Übrigens danke für dein Lob, ich war gleich neugierig, wie und über was du auf deinem Blog du schreibst und schwupps, schon bin ich hier und habe mich festgelesen.

    Liebe Grüße in die Nacht
    Deine neue Leserin
    Sandra ♥

  2. Wow! Was für ein Text, ich bin hin und weg.
    2 Fragen:
    1.Hast Du ihn getroffen :)?
    2. hast Du selbst schon etwas veröffentlicht? Du schreibst wirklich schön.
    Viele Grüße,
    Karolina

    1. Liebe Karolina,

      ich habe zwar schon Texte veröffentlicht, aber kein Buch – dazu würde auch meine Phantasie niemals reichen.

      Und ja – ich habe ihn getroffen, lies mal hier.

      Herzliche Grüße

      Sonja

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