Vordergründig geht es in diesem Buch nur um Sex. Genauer um den Sex, den man nicht hat. Und die Frage, ob es einem besser ginge, hätte man ihn. Aber auch um Angst, Sehnsucht, Frust, Langeweile, Ekel, Selbsthass und Verzweiflung. Das Buch hat mich zuerst begeistert, dann irritiert – zurück lässt es mich ein wenig ratlos. Aber der Reihe nach…
Begeistert hat mich dieses Buch durch seine unglaubliche Wucht der Sprache. Klar, präzise, hemmungs-, scham- und schonungslos. Sibylle Berg muss sich nicht erst warmlaufen, sie langt sofort mit der Faust dorthin, wo es weh tut. Sie trifft mit ihren mitunter drastischen Formulierungen punktgenau die wunden Stellen – die der Protagonisten genauso wie die der von ihr so wunderbar zynisch karikierten Wohlstandsgesellschaft. Prosa Marke Dampfhammer.
Chloe und Rasmus sind ein Paar mittleren Alters, zwanzig Jahre verheiratet, kinderlos. Rasmus ist Theaterregisseur, früher aufstrebend und erfolgreich mit Zukunft und Visionen, heute durchgereicht ins untere Mittelfeld, sein Genius verkannt und ohne wirkliche Perspektive. Seine Gedanken kreisen um das ausfallende Haar, das unzuverlässig werdende Stehvermögen und das allumfassende Gefühl der Midlifecrisis, das er umschreibt mit dem „Ich-kann-grundlegend-nichts-mehr-ändern-Gefühl. Hungrig zu sein, aber zu müde zum Essen.“
Chloe rafft sich morgens für einen halben Tag auf zu ihrer „Beschäftigungsstelle“, um nicht nur Frau Regisseur zu sein, verkauft dort antiquarische Bücher an gutbetuchte Sammler, liegt nachts wach und sorgt sich um ihren armen, gedemütigten Mann, der ihr „so leid tut in seinem Misserfolg, in seiner Unfähigkeit, einen Beruf als das zu sehen, was er ist: ein Zeitvertreib im Warten auf den Tod.“
Sie haben sich gut eingerichtet in ihrer Ehe, haben sich aneinander gewöhnt, perfekt aufeinander abgestimmt, sind sich in ihrer Gegenwart so angenehm geworden wie ein Paar lange eingelatschter Schuhe. Nur der Sex war nie besonders. Nie besonders aufregend, nie besonders toll und auch nicht besonders häufig. Sie tun es nur, weil es dazu gehört. Nach Rasmus Bekunden „unsere Todeszone. Niemandsland. Vermintes Gebiet.“
„Das hat man uns, verdammt noch mal, erzählt, dass Paare Sex haben müssen, um sich ihrer Liebe zu versichern, denn sonst könnte man ja auch alleine leben, wenn man diesem biologischen Ruf der Geschlechtsorgane keine Folge leisten möchte. … Wir müssen das Ding jetzt durchziehen. … Wir lachen sonst viel. Wir halten uns so fest und streicheln uns, wir beschützen uns, und warum nur, warum nur müssen wir ficken, als ob wir Fremde wären.“
Das umschreibt ziemlich genau den Zustand ihrer Beziehung. Bonjour tristesse.
Während sie sich nach irgendetwas sehnt, was sie nicht schon hundert Mal gefühlt hat, ereilt Rasmus endlich wieder eine Vision: irgendwo in der Dritten Welt will er Bedeutendes schaffen, Literatur und Theater in einen völlig unattraktiven Teil dieser Welt bringen. Und so finden sich Chloe und Rasmus in einem Küstenort wieder, der für andere Touristen nur Durchgangsstation ist, der nach dem nahegelegenen Schlachthof riecht und an dessen Strand man durch Plastikmüll watet, um dann im verschmutzten Wasser, in dem hin und wieder auch Schlachtabfälle treiben, baden zu können. Die perfekte Kulisse also für weiteres, groß angelegtes Scheitern.
Und an dieser Stelle, wo ich mich dann irritiert frage, ob außer dieser unglaublichen Tristesse, diesem Frust und Selbstekel noch etwas anderes geboten wird, kommt Benny ins Spiel. Benny als Projektionsfläche für Chloes sämtlich verschüttete Sehnsüchte, als personifizierte Verführung und Aussicht auf Erlösung, der patente und noch viel mehr potente Benny. Der den beiden später nachreist, mit in der gemeinsamen Wohnung lebt und auch nicht zögert, zur Entschärfung zwischenmenschlicher Disharmonien selbstlos mit seinem Deeskalationsejakulat hilfreich zur Seite zu stehen…
Im weiteren Verlauf wird dann noch fleißig kopuliert, sich zerfleischt und bemitleidet, keine (Selbst-) Erniedrigung wird ausgelassen, um am Ende einen Neuanfang im Sonnenschein zu wagen.
Und ich sitze staunend und etwas erschlagen vor diesem Buch und frage mich, was zum Teufel mir Sibylle Berg mit diesem Werk nun sagen will. Ich wundere mich über diese unglaublich destruktiven Denk- und Verhaltensmuster. Über Menschen, denen es eigentlich gut geht und deren Gedanken in Ermangelung wirklich ernsthafter Probleme tagtäglich nur im sich selbst kreisen. Die sich, ihren Körper und den ihres Partners argwöhnisch beobachten, jede kleinste Veränderung Richtung körperlichen Verfalls registrieren, um sich dann angeekelt, sich selbst beweinend und voller Verzweiflung einzugestehen, dass das Ende unaufhaltsam naht und eh alles irgendwie missglückt und falsch und unnütz ist. Was mir fehlt, ist das offene Ende, das mich rätseln lässt, was aus den beiden wohl geworden ist. Oder ein Schluss, der mich hoffen lässt, dass die beiden aus den gemachten Erfahrungen irgendeine hilfreiche Erkenntnis gewonnen haben. Ich frage mich, ob das Ende passt, das mir eigentlich zu beliebig ist, zu unspektakulär, zu wenig neu. Vielleicht ist es aber auch genau so richtig, weil das Leben eben genau so ist. Weil es viele solcher Chloes und Rasmus‘ gibt. Weil die Probleme uralt und bekannt sind und sich trotzdem immer wiederholen. Vermutlich ist es darum genau richtig.
Risiken und Nebenwirkungen: bei entsprechend konstituierten Lesern kann die Lektüre eventuell zu Gefühlen des Angewidertseins oder auch zu temporär auftretender sexueller Unlust führen, verursacht durch als unappetitlich empfundene Schilderungen. Das sollte nicht als Ausschlusskriterium gelten, aber erwähnt werden.
Wer sich dann diese wirklich großartige Verbalkeule nicht entgehen lassen möchte, bestellt beim Buchhändler seiner Wahl das Buch mit der ISBN 978-3-446-24760-4, tauscht es gegen 19,90 € und freut sich auf 256 wortgewaltige Seiten. Erschienen ist das gute Stück übrigens bei Hanser.
„Ein großartiges, schonungsloses, unbedingt zu lesendes Buch!“ meint Mariki vom Bücherwurmloch. Und um das Prinzip der Ganzheitlichkeit zu pflegen, gibt es zum Thema hier noch etwas auf die Ohren Deutschlandradiokultur und hier für die Augen: Trailer.
Sibylle Berg, geboren in Weimar, lebt heute in Zürich. Sie schreibt Romane, Theaterstücke, Essays und Kolumnen (u.a. für die Neue Zürcher Zeitung und Spiegel Online). Sie schrieb bislang 15 Romane, 17 Theaterstücke und unzählige Essays. Sibylle Bergs Werke wurden in 34 Sprachen übersetzt. 2009 erschien ihr erster Roman bei Hanser: Der Mann schläft. 2012 folgte Vielen Dank für das Leben.
Liebe Sonja,
ich stand gerade etwas ratlos vor dem Bücherstapel und tendierte dazu dieses Buch zu lesen. Gerade frage ich mich allerdings, ob es für den jetzigen Moment wirklich die richtige Lektüre ist. Das liegt aber keinesfalls an deiner Besprechung, denn die ist wirklich wunderbar geschrieben. 🙂
Liebe Grüße
Petzi
Liebe Petzi,
freut mich, dass dir die Besprechung gefallen hat.
Ich weiß nicht, ob es für dieses Buch überhaupt einen richtigen Zeitpunkt gibt. Bei mir war es auch eher so, dass mich die Neugier getrieben hat. Und einmal angefangen, gab es kein Zurück mehr.
Bin gespannt, wie es sich für dich liest…
Liebe Grüße
Sonja
Liebe Sonja,
ich habe das Buch ja noch im Zug gelesen und hab mir immer wieder gedacht: Mist, ich bin 10 Jahre zu jung ;). Ich fand das Buch sehr gut und es bringt einfach alles auf den Punkt. Es muss ja auch mal gesagt werden. Wie oft ist gerad dieses Thema Niemandsland. Vermintes Gebiet. Sie beschreibt einfach die REALITÄT. Und das Ende ist eigentlich furchtbar aber eben auch das die REALITÄT. Danke für diesen wunderbaren wie amüsanten Beitrag!!!
Liebe Grüße
Vera
Liebe Sonja,
ob ich das Buch jetzt unbedingt lesen muss, weiss ich noch nicht. Deine wunderbare Besprechung allerdings hat mich ausgesprochen erfreut und amüsiert. Zumindest dafür hast sich das Buch schon mal gelohnt!
Liebe Grüsse
Kai
Lieber Kai,
gestern las ich im Literaturcafé eine Besprechung, in der der Verfasser formulierte, dass man die Bücher von Sibylle Berg aushalten wollen muss. Das trifft es wohl ziemlich genau. Dafür muss man irgendwie in Stimmung sein.
Aber wenn dich mein Artikel dazu erfreut UND amüsiert hat, lohnte sich beides – das Lesen und Artikelschreiben. Sehr schön!
Herzliche Grüße
Sonja
Hm – das ist so ein Buch. Es saugt einen (oder zumindest mich) regelrecht in die Seiten und es war so viel von dem darin, was ich täglich sehe (dafür muss man ja nicht extra an einen verdreckten Strand fahren), und so voll von dieser resigniert-verhaltenen-aber-es geht-uns-doch-bestens Aggressivität, dass mir oft genug der Mund offen stand. Dabei waren mir die beiden gar nicht mal so unsympathisch. Doch am Ende war ich froh, das Buch weglegen zu können. Ich war fertig mit diesen Wohlstandsloosern (ist Benny jetzt eigentlich überfahren worden oder habe ich am Schluss halluziniert?). Die Analyse ist superbe. Aber dann fehlte mir doch ein Fazit. Ich weiß, das klingt naiv. Als könne ich mir nicht selbst meinen Senf dazu anrühren. Aber was ist eine Bestandsaufnahme, wenn die Akteure nicht nachher in die Hölle fahren (wobei, im Grunde tun sie ja genau das – nur eben schön laaaangsaaam) oder irgendwo zumindest ein Ausweg zu sehen ist. Es ist ein tolles Buch, aber es lässt einen zurück, als hätte man zu lange mit einem öden Paar Ferien gemacht.
Liebe Stephanie,
naiv klingt das nicht – mir ging es ja ähnlich, wie du im Beitrag lesen kannst. Das Buch peitscht einen erbarmungslos durch die von Frust zerfressene Gedankenwelt der Protagonisten, um dann am Ende in einer Blase der sonnigen Glückseligkeit zu verpuffen… Das hat mich auch etwas ratlos zurück gelassen. Und dein Vergleich mit dem öden Paar und den zu langen Ferien trifft es sehr gut!
Herzliche Grüße
Sonja