„Die Zeit existiert nicht. Wir stellen sie her, indem wir versuchen, uns zu erinnern. Indem wir einen Duft aufnehmen, einen Klang, eine vage Empfindung, und daraus eine Vergangenheit konstruieren, die stattgefunden haben könnte, stattgefunden hat, und jetzt nur mehr eine Atmosphäre ist, die uns durchdringt.“
Was für ein Geschwurbel! Das war mein erster Gedanke, nachdem ich die ersten Seiten von Marion Poschmanns „Sonnenposition“ gelesen hatte. Ellenlange, seitenlange Ausführungen über Aussehen, Art und Beschaffenheit des alten Schlosses im Osten Deutschlands, das nach der Wende eine psychiatrische Anstalt beherbergt und in dem der Protagonist Altfried Janich als Psychiater angestellt ist. Millimetergenaue Beschreibungen von Struktur und Form der Putze, der Ornamente und des Stucks. Nie hätte ich gedacht, dass man drei komplette Seiten über das Falten, die Struktur und die Anlässe zur Benutzung von Servietten füllen könne. Oder eine ganze Seite über die Dinge, die eine Glühbirne sehen kann. Gut beschrieben zwar, ausnehmend gut sogar, aber zu wenig, um mich zu fesseln. Das Tanzen von Staub in der Sonne, das Wandern von Sonnenstrahlen im Tagesverlauf, sich im Laufe der Jahrzehnte verändernde Farben und von der Decke abplattende Gipsstücke wirkten so einschläfernd, dass mir zwischendurch wirklich die Augen zufielen.
Nun lese ich ungern ein Buch nicht zu Ende. Und auch hier wollte ich nicht so schnell aufgeben, irgendwas an der Sprache Marion Poschmanns faszinierte mich. Seltsamerweise waren mir am nächsten Tag die durch die gelesenen Seiten heraufbeschworenen Textpassagen unglaublich präsent – trotzt meines Wegdämmerns. Darum las ich weiter.
Es gibt bestimmte Strukturen, denen Autoren, Schriftsteller oder Dichter folgen, um einen Text zu gliedern, um Spannung zu erzeugen, einen Bogen zu spannen, um den Leser einzufangen. Nach ein paar weiteren Seiten hatte ich so eine Ahnung; später war ich mir sicher: Marion Poschmann pfeift auf das alles. Es gibt keine Linie, an der sich ihr Roman entlang hangelt, an der sich der Leser orientieren kann. Es gibt keinen chronologischen Aufbau, es gibt keine Abfolge von persönlichen Geschichten, die aufeinander aufbauen. Es gibt keine Identifikationsfigur, es gibt keine Helden.
Es gibt den Psychiater Altfried Janich, Rheinländer, rundlich und rothaarig. Er lebt im Schloss, zieht nachts schlaflos durch leere Räume, hat eine Schwäche für tiefgefrorene Reibekuchen, die er auf seiner Heizung auftaut und isst; kann sich nicht von seiner „Regenhaut“ , einem farblosen Schutzoverall, trennen und der einzige Bereich, in dem er so etwas wie Leidenschaft entwickelt, ist die Jagd nach Erlkönigen – Prototypen von Wagen, die vom jeweiligen Hersteller an der Karosserie durch zusätzliche Aufbauten und Aufkleben von Folien mit Mustern und Karos verändert werden, um das eigentliche Aussehen zu verschleiern. Es sollen keine Konturen mehr sichtbar, der Betrachter irritiert sein; im besten Fall ist das Objekt vor dem Hintergrund nicht mehr auszumachen. Überhaupt geht es in diesem Buch oft um diesen Vorgang des Anpassens, – rückblickend ist das ganze Buch voll von verschwimmenden und fehlenden Grenzen.
Den ganzen Roman über bleibt vieles im Nebel, wird nicht klar umrissen: die (einseitige) Freundschaft zu Odilo, der auch im fortgeschrittenen Altern noch bei seiner Mutter wohnt, schlafwandelt, ununterbrochen arbeitet und obsessiv an der Biolumineszenz forscht.
Altfrieds Schwester Mila, erfolgreiche Designerin, die mit Vorliebe aus alten Kleidungsstücken neue kreiert – und, wie sich später herausstellt, auf eine nicht ganz eindeutige Art mit Odilio verbunden war. Bis dahin gänzlich unbemerkt von Altfried.
Die Geschichte von Altfrieds Vater: im Alter von sechs Jahren brutal zum Vollwaisen gemacht, mit seiner nur knapp älteren Schwester aus Schlesien vertrieben, auf der Flucht an einer Infektion fast gestorben. Nur durch die Güte einer Krankenschwester hat er überlebt; untergekommen und aufgewachsen ist er bei Verwandten im Rheinland.
Und dann gibt es da noch diese aussergewöhnliche sprachliche Ausdruckskraft. Jetzt, im Nachhinein, kommt es mir so vor, als hätte Marion Poschmann diese Geschichte überhaupt nur als Vorwand genutzt, als Plattform, um darauf ihr buchstabengewordenes Feuerwerk zünden zu können. Sie schreibt nicht einfach, sie komponiert; verbindet Farben mit Formen, jongliert mit Traum und Wirklichkeit, mit Vergangenheit und Gegenwart, mit Wahnsinn und vermeintlicher Normalität:
„Oft weiß ich selbst nicht, ob ich mich als Arzt oder als Patient hier aufhalte. (So geht es allen hier, nehme ich an.) Die Unterschiede verwischen, wenn man feststellen muß, daß nur der Status, den man einnimmt, die Macht, über die man verfügt, das Bild einer gefestigten Persönlichkeit hervorbringt, und daß es einer rätselhafter Vorsehung zu verdanken ist, daß ich den weißen Kittel trage und die anderen nicht.“
Sie teilt bestimmten Lebensabschnitten bestimmte Tapetenarten zu, betitelt den Prolog mit Sol invictus (unbesiegter Sonnengott) und den Epilog mit Aurora borealis (Polarlicht), tanzt wie ein Derwisch durch nicht enden wollende Kettensätze, mäandert durch seitenlange Beschreibungen von Nebensächlichkeiten,
„Ich schreite über moosgrünen, kratzigen Bodenbelag, der den Eindruck einer allgemeinen und vollständigen Verfilzung macht. Und wir warten nur darauf, daß sich dieses filzige Moos weiter ausbreitet, daß es auch andere Räumlichkeiten, daß es uns alle gnädig überzieht.“
um dann in Kapiteln mit den Fallgeschichten der Patienten auf drei, vier Seiten die komplexen Zusammenhänge zusammenzufassen, die diese Menschen dazu gebracht haben, aus ihren Leben zu fallen: der frustrierte Ehemann, der schläft, während seine Frau im Bad nebenan ein Kind gebiert, tötet und anschließend tiefkühlt. Der einsame Mann im Rollstuhl, der irgendwann die Blicke der PinUps im Küchenschrank nicht mehr aushält und sich die Bedrohung nur noch mit Hilfe des Wasserschlauches vom Hals halten kann…
Ich könnte jetzt noch lange fortfahren mit Besonderheiten, Zitaten und unglaublichen Sätzen, mit Deutungsmöglichkeiten, möglichen Zusammenhängen oder Metaphern – aber ich beschränke mich auf mein Fazit: ein Buch, auf das man sich einlassen muss, das man nicht lesen braucht, wenn man sehr handlungsbezogene Lektüre bevorzugt. Das einem aber einen wirklich außergewöhnlichen, schillernden, leuchtenden und lebendigen Sprachschatz schenkt.
„Wer des Nachts in ein Gebüsch leuchtet, scheucht Tiere auf und spielt ihnen Tag vor, er wird sie nie schlafend erwischen. Schatten lässt sich nur ableiten. Schatten ist da, wohin mein Blick nicht fällt. Dennoch weiß ich um ihn, denn das Licht entsteht aus der Finsternis.“
Kleine Anmerkung: ich habe die Zitate buchstabengetreu wiedergegeben. Die „ß“s findet man tatsächlich so im Text. Warum, wird wohl ein Geheimnis des Suhrkamp-Verlages bleiben.
Ich las das Buch in der gebundenen Ausgabe, das Taschenbuch erschien heute,15.09.2014, als
suhrkamp taschenbuch 4546, Broschur, mit 337 Seiten und der
ISBN: 978-3-518-46546-2.