Kann man auf 175 Seiten eine Geschichte erzählen, in der es eigentlich nur um zwei Minuten geht? Zwei Minuten, in denen nichts passiert, außer dass eine Frau mit dem Rad durch den isländischen Küstenort Valeyri fährt? Ja, man kann. Guðmundur Andri Thorsson kann.
Es ist Mittsommer. Die Frau auf dem Rad heißt Kata und ist auf dem Weg zum Gemeindehaus, in dem am Abend das große Chorkonzert stattfinden soll. Sie leitet den Chor, in dem viele der Dorfbewohner Mitglied sind, und war früher eine talentierte Klarinettenspielerin. Aber das weiß hier niemand. Kata trägt zur Feier des Tages ein Kleid, das sie hier noch nie trug und allen Bewohnern auffällt . Es ist ein „weißes Kleid mit blauen Punkten, das sie an dem Tag gekauft hat, als sie geliebt wurde.“ Auch diese Bedeutung ist hier niemandem bekannt.
Es ist Mittsommer.
„Der Nachmittag pulsiert. Man sieht den haltsuchend umherschwebenden Samen der Pusteblume, hört das ferne Rufen der Kinder, die auf den Trampolinen toben, Vogelgeschrei vom Meer und das Tuckern eines Motorbootes auf dem Weg an Land. Rasenmäher knattern…“.
Das ist die Stimmung, die Guðmundur Andri Thorsson heraufbeschwört, um uns dann vom Wind die Geheimnisse des Dorfes zuflüstern zu lassen. Geheimnisse, die seit Jahren und Jahrzenten im Dunst des Meeres konserviert sind.
„Er kommt vom Meer und streicht über die Landzunge. Wenn der Tag zu Ende geht, kriecht der Nebel langsam in den Fjord, wie er es immer tut im Sommer, tastet sich um die steinigen Hügel, späht hinter die Grasbuckel, gleitet ins Dorf, wo er die Hausecken ableckt, die Boote im Hafen streift und sich dann so weit hebt, dass ich in die Fenster schauen kann. Ich sehe die Geheimnisse. … Ich schaue nie weg.“ (Seite 7).
„Ich habe gesehen, wie die Liebe in Augen erwachte und in Taten starb. Ich habe gesehen, wie ein verlassenes Kind zu weinen aufhörte. Ich habe sehen, wie Männer ertranken und Jungen sich erhängten. Und habe sehen, wie eine schwangere Frau mit eisblauen Augen ermordet und begraben wurde.“ (Seite 9)
Und was uns Guðmundur Andri Thorsson dann durch den Wind erzählen lässt, ist ganz, ganz große Erzählkunst. Der Wind hat mich durch die Geschichten und die Leben, in denen die Geschichten entstanden sind, getragen. Er hat mich umschmeichelt mit sanften Sätzen, die Wehmut und Freude zugleich, die unglaublicher Schmerz und gleichzeitig wissendes Verständnis sind. In den kurzen Kapiteln schildert er unterschiedliche Dorfbewohner, wie sie sich auf ihren persönlichen Mittsommerabend vorbereiten. Dabei breitet er mir auf ganz besondere, einzigartige Weise sämtliche Facetten ihres Lebens auf: zärtlich, klug und voller Poesie.
Ich sitze mit Smyrill, dem Dichter, an diesem einen magischen Moment am Meeresstrand, in dem er spürt, dass das Gedicht zu ihm unterwegs ist, sich ihm offenbart. Ich spüre ein leises Bedauern, wenn ich Josa beobachte, die immer das Gefühl hat, dass das Leben draußen ist und ohne sie stattfindet. In einem Motorboot laufe ich den heimatlichen Hafen an, mit Bengsi, dessen Vater vor seinen Augen in den Tod sprang und für den die Augen seiner Kinder Hoffnungsfackeln sind, als Ansporn und Leuchtfeuer der Zukunft.
„…und das Ziel ist das Zuhause. Man geht durchs Leben, und die Einfahrsignale siend die Augen der Kinder. Die Hoffnungsfackeln brennen.“ (Seite 57)
Ich fühle mit Sveinsina, die jeden Tag ein besonderes Gitarrensolo hört, das vor langer Zeit extra für sie gespielt wurde. Entsetzen packt und lähmt mich, wenn ich Svenni dabei zusehe, wie er wieder einmal seine Gardinen zuziehen muss, weil die Dämonen der Vergangenheit nach ihm greifen, weil er lernen musste, nichts zu spüren. Ich erlebe Menschen, die in Erwartung einst geliebter Menschen die Türe nicht mehr schließen oder sich in Jenseitswelten flüchten, damit sie sich fühlen können, als würden sie leben.
Der Wind flüstert von Sehnsüchten und verlorenen Träumen, von Menschen, die durch ihre Geheimnisse miteinander verwoben sind, über Generationen hinweg und ohne das „wie“ zu kennen.
Nachdem ich dieses Buch gelesen hatte, mochte ich ein paar Tage kein neues Buch anfangen. Die Atmosphäre, die feine Melancholie und die intensiven Bilder hatten eine so unglaubliche Präsenz, die ich noch einige Zeit für mich auskosten wollte. Eine Rezension hatte ich ein paar Mal begonnen, sie aber immer wieder umgeschrieben, ergänzt – irgendwie erschien sie mir nie so richtig treffend. Ein paar Wochen später nahm ich das Buch wieder in die Hand, weil ich ein paar Textpassagen nachlesen wollte, um sie dann in meinen Beitrag einzufügen. Sofort war diese Faszination wieder da, der Wind nahm mich wieder mit und führte mich zum zweiten Mal durch alle Kapitel, bis er am Ende sich im Nebel auflöst…
Danke, Herr Thorsson. Es war mir ein Fest.
Guðmundur Andri Thorsson, 1957 in Reykjavik geboren, ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Islands und wurde für seine Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sein Roman Nach Island! erschien 1996 auf Deutsch. Thorsson arbeitet außerdem als Literaturkritiker, Verlagslektor und Übersetzer.
Am schnellsten kommt man in diesen unbedingt zu empfehlenden Lesegenuss, wenn man dem Buchhändler seines Vertrauens die ISBN 978-3-455-40334-3 ins Ohr flüstert, 18,00 € berappt und sich auf 176 gebundene Seiten freut. Übersetzt übrigens wurde dieses wunderbare Buch von Tina Flecken.
Eine weitere, ausführliche Rezension findet man auf dem Blog Wortspiele von Wolfgang Schiffer (dessen gesamte Beiträge übrigens sehr lesenswert sind).
Noch mehr Appetit kann man sich hier holen:
Das Buch ist bei mir auch recht weit oben auf der Wunschliste. Danke für die Vorstellung, der zweite Blogger, der davon begeistert ist. Ich liebe Island und die Landschaft dieser wunderschönen Insel mit ihren Fjorden, den Gletscherzungen, den weiten Lavafeldern und der Ruhe, der unendlichen Ruhe. Ich kann mir gut vorstellen, das ein isländischer Autor das gut in Text einbringen kann.
Herzlichen Dank
Tobi
Lieber Tobi,
ganz ehrlich, „In den Wind geflüstert“ ist für mich eins dieser bibliophilen Geschenke; ein Buch, das auf mich einen ganz seltsamen und langandauernden Reiz ausübt. Es ist leise, leicht, wehmütig, weise und mit seiner ganz eigenen Form von Optimismus hat es sich sanft bei mir eingenistet. Ein Buch, dem ich noch ganz viele Leser wünsche.