Blogbuster – Shortcuts 6

Fenster:

Bei aller Schilderung des Verfalls wäre es allerdings falsch anzunehmen, Rillingsbach sei zu irgendeinem Zeitpunkt ein blühendes und anziehendes Zentrum des lokalen gesellschaftlichen Lebens gewesen. Schon immer ein abgelegenes Provinznest, kamen von den wenigen Touristen abgesehen – die sich ohnehin meist außerhalb des Dorfes aufhielten, im Rillingsbacher Weiher badeten oder die endlosen Waldwege entlangwanderten – schon damals kaum Leute in den Ort, die nicht von hier waren. Die Behauptung, das Dorf sei nach und nach verfallen, lasst sich zwar nicht ganz von der Hand weisen. Ebenso berechtigt wäre aber der Schluss, es habe sich lediglich seinen Charakter bewahrt.

Hosenträger:

Erwin stand vor ihr wie ein unbezwingbarer Berg, ein Berg mit braunen Hosenträgern, die ihm links und rechts von der Hüfte baumelten. Mit seiner riesigen Pranke, wieder bemerkte sie die Narben, strich er ihr über das Haar, hob einen der Zöpfe an und betrachtete ihn nachdenklich. Mit Nachdruck und in seiner ihm eigenen Art zu sprechen, schleppend, sich beinahe verschluckend, wiederholte er seine Aufforderung. Er kam näher, roch nach Arbeit, roch nach dem Blut unschuldiger Tiere, nach nassen Hundewelpen.

Alte Fotos:

„Spiel unser Lied, Alfred!“, hätte sie gerne gesagt, wenn sie denn eines gehabt hatten. Sie seufzte schwärmerisch. Der Jazz, der Blues. Sie hielt nicht viel von Negermusik, aber in den Worten allein pulsierte ein Lebensgefühl, Erna sprach sie einfach gerne aus. Auch andere Worte wie Highway, Speed Limit oder Hells Angels. Ortsnamen und Flüsse. Las Vegas. Sioux Falls. Rio Grande. Baton Rouge. In jedem davon steckte ein Funken ihres eigenen Amerikas, und nun war sie wahrhaftig auf diesen Straßen und blickte durch den Rückspiegel auf die Lichter der größten Stadt, in der Alfred sie je auf den Mund geküsst hatte. Es war ein Moment des Überschwangs und der Peinlichkeit gewesen, und es hatte ihr gefallen.

oder

Voll wird es hier nur nach Beerdigungen und während der Fußballweltmeisterschaft. In der restlichen Zeit fangen vergilbte Fotografien an den Wänden den Staub, und ein zerrupftes, rostrotes Fell unklaren Ursprungs erinnert an ein wilderes Schwabenland. Über dem Tresen schließlich hängt wie die Katarakt eine ausgebleichte amerikanische Flagge, doch ohne Wind wirkt sie beinahe scheu.

Bücher:

Sie freute sich über jeden Besucher, der in den gut beheizten Lesesaal eintrat, sich die frierenden Hände rieb und mit großen Augen umsah. Im Winter war es manchmal nur die Wärme, welche die Leute hereinlockte, doch gerade dann labte sich Martha an ihren fast ehrfürchtigen Blicken. Obwohl sie dieselben Namen trugen, waren sie hier andere Menschen, nicht mehr die Nachbarn oder die Stammgäste aus dem Schippen. Sie verhielten sich anders, allein schon die Stille veränderte alles. Die Menschen suchten nach etwas, und manchmal, an besonders guten Tagen, glaubte Martha zu sehen, wie sie einen Glimmer davon erhaschten, und ihre Bewunderung für die Literatur wuchs ins Unermessliche.

Zimmer:

„Ach Herrje, die Siebziger.“ Hilde verdreht genießerisch die Augen. Those were the days my friend. Der Chronist hält es fest, so wird es dann wohl gewesen sein. Als Zuhörer tut er sich allerdings schwer damit zu erkennen, worin sich Hildes Leben in den Siebzigerjahren von jenem in den späten Sechzigern unterschied. Er registriert einen signifikanten Anstieg im Konsum von Rauschgift, aber der Strom riss sie noch immer in dieselbe Richtung wie eh und je, nämlich flussabwärts. „Man kann diese Zeit nicht beschreiben“, meint Hilde kopfschüttelnd. „Man muss sie ganz einfach erlebt haben.“

Wieder herrscht eine betroffene Stille im Schippen, wie überhaupt auffällig oft, wenn sie ihre fluoreszierenden Erinnerungen ausbreitet und durch die stickige Luft flimmern lasst, zufällig wie die Töne eines verstimmten Windspiels. Etwas schwingt darin mit, das die Menschen auf eine nicht ganz nachvollziehbare Weise anrührt.

Fleischwolf:

Den schwäbischen Dialekt hatte er aus seinem Munde verbannt, das allein machte Martha schon misstrauisch. Sein Gang war sonderbar schlurfend, wie gemacht für böse Träume, die schwarzen Stiefel schleiften kraftlos über den Holzboden, dass sie dabei klangen wie geschossene Rehe, die in den Schlachtkeller gezogen werden, und Martha war immer wieder überrascht zu sehen, dass er hinter sich keine schleimige Spur zurückließ wie eine große graue Schnecke.

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